Mein prägendstes, nachhaltigstes und wichtigstes Musikerlebnis war wohl das Lied, das in früher Kindheit meine Mutter täglich unmittelbar vor dem Einschlafen am Bett mit mir sang. Meine Liebe zur Musik wurde damit begründet. Denn Musik war hier Ausdruck persönlicher menschlicher Zuwendung, Vertrauen schaffender und inneren Frieden stiftender Liebe. Etwas Schöneres kann es nicht geben. Es ist niemals zu erreichen durch das Abspielen einer Tonkonserve oder die fiktive Erscheinung des Sandmännchens im Fernsehen.
Auch sonst wurde in unserer Familie viel gesungen, besonders in größerem Kreis bei Festlichkeiten. An die fröhliche Stimmung, aus der heraus dies stets geschah und die durch das Singen noch gesteigert wurde, kann ich mich gut erinnern. Dass niemand ein Instrument spielte, wurde nicht als Mangel empfunden. Intensiver kann man bei Musik nicht dabei sein, als mit der eigenen Stimme.
So betrachte ich es auch als außerordentlich wichtig für meine musikalische Entwicklung, dass ich bald nach Beginn der Schulzeit in die Burgstädter Kurrende aufgenommen wurde und dort Woche für Woche eine freitägliche Probe und zwei sonntägliche Gottesdienste – einen für Erwachsene und einen für Kinder – mitsingend absolvierte. „Learning by doing“, sagt man heute (nach Aristoteles). Ich wüsste nicht, dass jemals das Vom-Blatt-Singen extra mit mir geübt worden wäre – ich konnte es einfach ziemlich bald. Und die qualitativ hochwertige Musik – die alten protestantischen Kirchenlieder – vermittelten an relativ einfachen Beispielen ein gesundes Gefühl für die Gestaltung musikalischer Form im Ausgleich von melodischer Spannung und Entspannung.
Als mit etwa sieben Jahren der Klavierunterricht einsetzte, galt es natürlich, die Notennamen in der Reihenfolge der Tonleiter und die Notenschrift zu erlernen, doch das war nicht weiter schwierig, da es schrittweise erfolgte. Ansonsten galt auch hier: „Learning by doing.“ Vorgegebene Fingersätze interessierten mich nicht, sie wurden ignoriert, denn mit der Musik selbst hatten sie nichts zu tun. Trockene Fingerübungen ließ ich auch gern beiseite. Nicht einmal aufgegebene Musikstücke übte ich kontinuierlich Tag für Tag. Stattdessen klimperte ich vom Blatt lieber all das, was im Klavierbuch weiter hinten stand, um es kennenzulernen. Später staunten meine Studenten im Unterricht, dass ich ihre eigenen Kompositionen oft besser vom Blatt spielen konnte, als sie selbst.
Der Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule war dagegen jämmerlich. Immerhin wurde auch hier vorwiegend gesungen, ganz im Gegensatz zu heute. Aber viele wollten oder konnten nicht. Musiklehre blieb im Ansatz stecken. „Jale“ wurde begonnen und gedieh bis „ja-mi-ro-su“, aber ohne pädagogischen Effekt. Niemand wusste damit etwas Vernünftiges anzufangen, auch ich nicht. Denn ich kannte ja die „richtigen“ Notennamen und befand diese anderen Bezeichnungen als völlig überflüssig und nur belastend. In höheren Klassen wurde dann vor allem „Musikgeschichte“ gelehrt, Biographien von Komponisten und gesellschaftliche Wirkungen der Musik. Ein primäres Musikverständnis wurde offensichtlich nicht angestrebt und konnte so auch nicht entstehen.
Die Ausbildung zum Musikpädagogen an der Hochschule für Musik in Leipzig beinhaltete in meinem Fall neben allgemeinen Vorlesungen zu Pädagogik und Psychologie musikspezifisch eine Vorlesung zur Methodik der elementaren Musiklehre und eine darauffolgende Lehrpraxis mit Gruppen von Seminar-Schülern, die nicht zur Hochschule gehörten, aber hier auch Instrumental- oder Gesangsunterricht erhielten, der ebenfalls von Studenten erteilt wurde. Die von Prof. Siegfried Thiele gelehrte Methodik orientierte sich stark an Carl Orffs Schulwerk und überzeugte mich durch ihren Praxisbezug mit Hilfe des Orff-Instrumentariums. Auch hier: „Learning by doing.“ Dies galt für die Schüler genauso wie für mich als Lehrer.
Noch während des letzten Studienjahres wurde ich bereits für den Tonsatzunterricht von Direktstudenten eingesetzt, allerdings in einem Spezialfall: Es handelte sich um einen Ägypter und einen Syrer – aufgrund unterschiedlicher Traditionen keine leichte Aufgabe.
Nach Beendigung meines Studiums erhielt ich einen regulären Lehrauftrag für das Fach Tonsatz, welches für alle Instrumental- und Gesangsstudenten über drei Jahre verpflichtend war. Wie allgemein an Musikhochschulen üblich, beinhaltete es die Bereiche Kontrapunkt – einerseits nach Lasso/Palestrina, andererseits nach Bach – und Harmonielehre zu den Epochen ab 1600. Eine Richtschnur boten die damals auch in der DDR erschienenen Bücher von Diether de la Motte.
Eine Besonderheit der Leipziger Hochschule bestand darin, dass alle Tonsatzaufgaben – so weit wie möglich – nicht nur schriftlich ausgearbeitet, sondern auch am Klavier dargestellt werden sollten. So gab es parallel zum Renaissance-Kontrapunkt auch verpflichtend das Spiel älterer Choräle oder Volkslieder auf dem Klavier, für das 19. Jahrhundert entsprechend jüngerer Volkslieder. Die Improvisation verschiedener Formmodelle, wie Passacaglia, Rondo, Variationen, Sonatensatz, bis hin zu modalen Improvisationen à la Bartók wurde – je nach Leistungsstand eventuell auch auf dem Hauptfachinstrument – gefordert. Auch Modulationen mussten improvisatorisch ausgeführt werden. Das setzte voraus, dass der Pflichtfach-Klavierunterricht ein gewisses Niveau erreichte. Warum dies alles? Weil die Studenten nicht nur abstrakt schriftlich bestimmte Regeln befolgen, sondern auch hören und somit erleben sollten, wie gut oder schlecht sie ihre Aufgaben lösten. Musik entsteht eben erst im Klang, erst dort wird sie Realität. Und nur so lässt sich verstehen, was die einzelne Maßnahme musikalisch bewirkt. Auch hier galt also wieder das Prinzip: „Learning by doing.“
In ähnlicher Weise fand auch der Tonsatzunterricht an der Spezialschule für Musik in Halle (Saale) statt, nur auf niedrigerem Niveau, da es sich um einen studienvorbereitenden Unterricht für Schüler der 7.–11. Klasse handelte. Ich unterrichtete auch dort mehrere Jahre lang.
Joachim Seidel im Unterricht bei Reinhard Pfundt an der Hochschule für Musik Leipzig, um 1989
(Foto: Barbara Stroff)
Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland brachte für die Hochschulen gravierende Veränderungen mit sich. Bereits seit 1987 als Oberassistent und seit 1989 als Dozent an der Leipziger Musikhochschule fest angestellt, wurde ich 1990 zum Leiter der Abteilung Komposition/Tonsatz gewählt und 1992 zum Professor für Komposition und Tonsatz berufen. Von 1994 bis 2000 konnte ich als Prorektor für Lehre und Studium bestimmenden Einfluss auf die neu zu erstellenden Studien- und Prüfungsordnungen nehmen.
Eines meiner Hauptanliegen in dieser Funktion war es, die Schulmusik wieder – wie in Westdeutschland üblich – an der Musikhochschule anzusiedeln und somit den Stellenwert der Musikpraxis bei der Ausbildung von Musiklehrern zu erhöhen. Dieser Lehramtsstudiengang war in den 1950er Jahren auf staatliche Anordnung an die Leipziger Karl-Marx-Universität verlegt worden. Die Bemühungen um dessen Rückführung währten in Auseinandersetzungen mit der Universität Leipzig und dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst zehn Jahre lang und bedurften mühsamer Überzeugungsarbeit, bis sie schließlich von Erfolg gekrönt waren. Ich war in dieser Zeit ständiger Gastteilnehmer bei den Beratungen der Arbeitsgemeinschaft Schulmusik an den Hochschulen für Musik in der Bundesrepublik Deutschland, lernte viele musikpädagogische Konzepte kennen und erhielt besonders durch Prof. Dr. Christoph Richter wertvolle fachliche Hinweise und hilfreiche Unterstützung.
Auch auf dem Gebiet der Elementaren Musikpädagogik machte ich mich durch den Besuch von Fachtagungen mit der westlichen Praxis vertraut und förderte die Einrichtung eines entsprechenden Studienganges an der Leipziger Hochschule. Eine Zeit lang hielt ich auch Vorlesungen zur Methodik und betreute die Lehrpraxis der Studenten in diesem Fach.
Wesentliche neue Erkenntnisse zur Musiktheorie erhielt ich durch die Bekanntschaft mit dem damals schon hochbetagten Pfarrer und Privatgelehrten Gottfried Steyer und dessen Manuskript „Betrachtungen zur Maß- und Zahlenordnung des musikalischen Tonmaterials“. Es gelang mir, diese Schrift als Buch im Verlag Peter Lang zu veröffentlichen. Hinzugefügt hatte ich als Anhang seinen „Reformvorschlag zur Methode Tonika-Do“, einen genialen Text, der erstmals die Vokale der Solmisationssilben mit der Tonigkeit, dem „Toncharakter“, in einen sinnvollen Zusammenhang bringt. Wie oben erwähnt, hatte ich in der Schule „Jale“ teilweise kennengelernt und als nutzlos betrachtet. Nun eröffnete sich eine ganz neue Perspektive für ein sinnvolles Solmisieren.
Reinhard Pfundt und Gottfried Steyer beim Gedankenaustausch, im Frühjahr 1994
(Foto: Privat)
Auf „Tonika-Do“ (do-re-mi-fa-so-la-ti-do‘) und Steyer aufbauend, entwickelte ich durch eine Modifikation der Tonsilben die „Damisation“. In der Dur-Skala werden drei Vokale verändert: Die Quinte do-so wird durch da-sa ersetzt und der Ton la durch le. Dadurch lautet die Durtonleiter nun: da-re-mi-fa-sa-le-ti-da‘. Das entspricht der Struktur der Tonleiter viel besser als bei Tonika-Do, denn alle Quinten (die „vollkommenen Konsonanzen“) sind leicht erkennbar durch den gleichen Vokal – da-sa, re-le, mi-ti, fa-sa‘ –, die beiden gleichgebauten Tonleiterhälften (Tetrachorde) haben dieselbe Vokalfolge a-e-i-a und das „Gerüst“ der Skala, die Grundtöne der Hauptfunktionen Tonika, Dominante und Subdominante sind durch den Vokal a leicht zu erkennen. Auch bei Moll und den Kirchentonarten wird der Grundton immer mit da bezeichnet. Die bei Tonika-Do (für „tiefalterierte“ Töne) mu-tu lautende Quinte wird in mo-to umbenannt und unterscheidet sich dadurch besser von der tiefer liegenden Quinte ru-lu. Insgesamt ergibt sich eine sinnvolle, systematische Abstufung zwischen dunklen („tiefen“) und hellen („hohen“) Tönen des Quintenturms durch die in der Helligkeit ebenfalls aufsteigende Vokalreihe u-o-a-e-i. Die Orientierung im Tonsystem wird dadurch erheblich erleichtert. Für den Anfangsunterricht ist die Damisation ein ideales Mittel, um unmerklich, rein affektiv vom erlebten Vokalklang her, schon „Musiktheorie“ zu vermitteln, die dann später gar nicht mehr kognitiv gelernt werden muss. Was hier in seiner differenzierten Ausprägung nur angedeutet werden kann, habe ich in meiner Broschüre „Von der Solmisation zur Damisation“ ausführlich dargestellt und veröffentlicht.
Beim Unterrichten im Hauptfach Komposition versuchte ich, den Veranlagungen und spezifischen Interessen der Studenten Raum zu geben und so wenig wie möglich in deren Kompositionen apodiktisch korrigierend einzugreifen. Was mir problematisch erschien, sprach ich an und versuchte, durch gemeinsame Überlegungen zu besseren Lösungen zu kommen. Dazu dienten dann in vielen Fällen Beispiele, die man bei anderen Komponisten finden konnte. Der Hauptgesichtspunkt für alle kompositorischen Entscheidungen war die Frage der Wirkung auf die Hörer. Glücklicherweise gab es an der Leipziger Hochschule die Möglichkeit, alle Studentenkompositionen öffentlich aufzuführen, so dass beim Einstudieren auch gegenseitige Erfahrungen mit den Interpreten gemacht werden konnten.
Reinhard Pfundt mit den Kompositionsstudenten Christopher Tarnow und Manuel Durão, 2011
(Foto: Privat)
Zu einem Schwerpunkt meiner pädagogischen Tätigkeit entwickelte sich die Formenlehre. In diesem Fach gab es laut Studienordnung ein Semester lang wöchentliche Vorlesungen für fast alle Studiengänge der Hochschule und danach Analyse-Seminare in kleineren Gruppen. In den Vorlesungen legte ich Wert darauf, die musikalischen Formen als „lebendige“, in der Zeit ablaufende Prozesse zu verstehen und sie insofern vom „toten“ Notenbild zu unterscheiden. Nicht allein die einzelnen Töne (Noten) „machen“ die Musik, sondern die Spannungs-Verhältnisse, die „klingend“ in der Bewegung zwischen ihnen entstehen.
In den Seminaren war jeder Teilnehmer verpflichtet, eine selbst erarbeitete Analyse vorzutragen. Die Werk-Auswahl überließ ich den Studenten, um ihrem eigenen Interesse entgegenzukommen, beispielsweise an einem Werk aus dem jeweiligen Hauptfachunterricht, dessen Ablauf und Klang sie also gut kannten. Auf diese Weise setzte ich mich selbst dem Zwang aus, in der Vorbereitung auf den Unterricht eine große Zahl unterschiedlicher Werke zu studieren und zu analysieren. Ich glaube, erst dadurch wirklich erfahren zu haben, auf welchen stilübergreifenden Grundlagen die abendländische Musik im Kern beruht: auf Grundton, Oktavgleichheit, Quintbeziehung (T-D), Durdreiklang und deren spannungsvollem Wechselspiel mit mehr oder weniger „dissonanten“ Tönen.
Dies führte mich zu der Erkenntnis, dass die Musikentwicklung seit 1900 teilweise eine Richtung genommen hat, die sich von diesen Grundlagen entfernt und sie zunehmend in Vergessenheit geraten lässt. Die Bezeichnung „Atonalität“ ist – angewandt auf entsprechende Werke – nicht so unpassend, wie Schönberg meinte, und seine Methode der Komposition mit zwölf Tönen ist – bezogen auf die „klassische“ Musik – abwegig, da sie deren naturgegebene Gesetzmäßigkeiten negiert und einer abstrakten Idee folgt. Es gibt keinen Grundton mehr, die Oktave ist verboten, der Durdreiklang wird gemieden, alles andere ist fast gleichermaßen erlaubt. So entwickelte sich allmählich eine vorwiegend dissonante Klang- und Geräuschkunst, die oft nur noch wenig mit der Musik als beziehungsvoller und auch Freude bereitender Tonkunst zu tun hat. Der Musikbegriff wurde erweitert und umfasst nun laut Wikipedia alle „organisierten Schallereignisse“.
Die Musikwissenschaft betrachtet diese post-tonale Musik als das Fortschrittliche und eigentlich Maßgebende, obwohl in der Musikpraxis und in den Medien nach wie vor fast hundertprozentig tonale Musik dominiert, allerdings leider oft in modisch-primitiver Ausprägung. Musiktheoretiker stehen mittlerweile oft hilflos vor der Aufgabe, klassische Werke zu analysieren, da ihre neuen Theorien, zum Beispiel die Simonschen Tonfelder oder Fortes Pitch-class set theory, auf die tonale Musik nicht passen und sinnlose Ergebnisse hervorbringen.
Meine Seminare im Masterstudiengang Musiktheorie waren deshalb vorrangig darauf ausgerichtet, die echten Grundlagen der Musik anhand seriöser Literatur zu erarbeiten und auf die Unsinnigkeiten in zeitgenössischen Lehrbüchern und Artikeln durch kritisches Lesen und Diskutieren aufmerksam zu machen. Für mich war dabei als geistiger Hintergrund besonders wichtig Hermann Pfrogners Buch „Lebendige Tonwelt“ mit seinen Darstellungen zum musikalischen Ton und der Unterscheidung von Tonkern und seiner Klang- bzw. Schallhülle sowie die saubere Trennung der Schichten der Hörwahrnehmung in Diatonik, Chromatik und Enharmonik. Daraus ergibt sich die allerwichtigste Unterscheidung von beziehungs- und namenlosem Tonort (z. B. die schwarze Taste rechts vom c) und beziehungsvollem namentlichen Tonwert (cis, des oder hisis) – eine Unterscheidung, die von der atonalen Musik nicht getroffen wird, aber erst den ganzen Reichtum der Musik ausmacht. Neben der schon oben erwähnten „Zahlenordnung des musikalischen Tonmaterials“ von Gottfried Steyer spielte auch Ernst Bindels Buch „Die Zahlengrundlagen der Musik“ eine große Rolle. Schließlich gründet auch Horst-Peter Hesses Hörtheorie der Nervenimpulsmuster auf Zahlenverhältnissen. Sein Buch „Musik und Emotion – Wissenschaftliche Grundlagen des Musik-Erlebens“ bildete eine weitere wesentliche Grundlage für meine Musiktheorie-Seminare. Denn letztlich kommt es auf das Erleben an. „Grau, theurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“